Dem Tod von der Klippe gesprungen

Mal gewinnt man, mal verliert man. Die alte Büroweisheit gilt auch hier draußen. Heute haben wir verloren - gegen den One Man’s Path auf den Sleave League Klippen. Und doch haben wir auch gewonnen, zumindest an Erfahrung.

Doch der Reihe nach. Als wir das erste Mal heute früh aus dem Schlafzimmerfenster geschaut hatten, war es draußen eine nebelige Orgie in grau. Grund genug, den gestrigen Anstrengungen und der Tatsache, Urlaub zu haben, Tribut zu zollen, sich noch einmal umzudrehen und dem Tag später noch einmal eine Chance zu geben.

Gegen zehn schien es, als würde das Wetter diese Chance zu nutzen wissen. Zwar war es ungewöhnlich windig, aber dafür waren die Regenwolken bereits auf dem Weg Richtung England und der Himmel strahlte in dem Blau der vergangenen Tage.

Obgleich wir das Vorhaben tendenziell für morgen oder übermorgen auf dem Plan hatten, wollten wir die Gunst der Stunde nicht verstreichen lassen, packten unsere sieben Sachen und machten uns erneut auf, um die höchsten Steilklippen Europas zu besuchen und - wenn möglich - ihren schmalen Kamm einmal von rechts nach links zu überqueren.

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Da sah es noch so aus, als wäre heute Vieles möglich

 

Wir schlengelten uns also solange die engen Straßen Richtung Westen in die Sleave League Gebirgskette hinauf, bis wir schließlich an ein Gatter kamen, das nach dem Passieren wieder geschlossen werden musste und den Weg freigab zum kleinen Parkplatz, der den Ausgangspunkt für den Aufstieg zum Einstieg in den One Man’s Path darstellt.

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Nomen est Omen


Die Einheimischen nennen den Pfad über den Gebirgsgrad auch den „Pilgrim Path“ - und in der Tat hat es ein bisschen etwas vom dritten Indiana Jones Film. Der Weg der Gläubigen. Eine Strecke hoch über den Klippen, die man wohl tatsächlich nur mit einem gewissen Gottvertrauen angehen sollte. Zumindest aber mit dem festen Glauben, dass das Wetter in den kommenden Stunden stabil bleibt.

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Der halbe Aufstieg war geschafft, ein Blick zurück ins Tal verhieß nichts Schlimmes 


Schon der Aufstieg zum Beginn des Pfades ist eine Herausforderung. Der Weg ist mitunter lediglich eine Ansammlung von Geröll und aufgrund der hier relativ häufigen Regenschauer auch beständig mehr als nur etwas matschig. Gutes Schuhwerk ist hier schlicht unerlässlich.

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Gebirgskamm mit Ausblick. Wer es hoch schafft, sieht 600 Meter steil hinunter


Irgendwann kommt man dann an einen wirklich mutmachenden Warnhinweis. Kurz gefasst lautet der: „Wer keinen Kompass mit sich trägt und nicht erfahrener Bergwanderer ist, sollte nicht weitergehen. Wer es dennoch tut, möge den gelben Markierungen folgen“. Natürlich hatten wir einen Kompass dabei, gewundert haben wir uns aber dennoch. Weniger über die Warntafel als vielmehr über die Sequenz, mit der die gelben Markierungen bereits auf den letzten dreihundert Metern des Aufstieges zu finden sind. Alle fünf Meter ist das leuchtende Signal zu finden, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Denkt man, das wäre übertrieben, sollte man hier nur mal einen Wetterumschwung miterleben. Wir jedenfalls können stolz von uns berichten, das mal mitgemacht zu haben.

Wir waren vielleicht noch 100 Meter unter dem Gipfelgrad, als jemand einen Schalter umlegte. So schnell, dass man es nicht für möglich gehalten hätte, wechselte die Witterung. Wo eben noch klare Sicht war und nichts auf ernsthaften Regen hindeutete, schoss plötzlich Nebel über den Klippenkamm und hüllte uns vollständig ein. 

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Der Nebel kommt - das letzte Bild vor der hastig eingeleiteten Flucht


Die Sichtweite betrug keine 30 Sekunden später von jetzt auf gleich keine 10 Meter mehr. Zwei Wanderer, die fünfzig Meter vor uns gegangen waren, konnten wir beim besten Willen nicht mehr ausmachen. Dazu trug auch der urplötzlich einsetzende Starkregen bei, der uns durch Orkanböhen regelrecht um die Ohren peitschte. Mit Müh und Not konnten wir noch den Kamerarucksack in seine Regenschutzhülle packen. Wir selbst hatten große Probleme, bei dem Wind die wasserfesten Outdoor-Jacken anzuziehen. Es reichte einfach nicht mehr, um darunter nasse Klamotten zu vermeiden.

Sei’s drum, wir hatten zumindest rechtzeitig den Fingerzeig bekommen, heute doch nicht das elementare Teilstück des "Pilgrim Path“ über die Klippen hinweg zu versuchen. Und wir wussten es zu schätzen, dass alle fünf Meter aus dem Nebel gelbe Markierungen auftauchten.

Auch unsere Vorläufer auf der Wanderung hatten offensichtlich umgedreht (was hätten sie auch machen sollen) und tauchten irgendwann aus dem Nebel wieder auf.

Nicht auszudenken, wenn uns das Szenario nicht unmittelbar vor dem Einstieg sondern mitten auf dem Klippenkamm ereilt hätte. Dort hätten wir voraussichtlich an Ort und Stelle ausharren müssen, bis das Unwetter irgendwann soweit vorübergezogen wäre, dass man sich schrittweise zurücktasten hätte können. Keine wildromantische Vorstellung.

So haben wir - Brillenträger sollten übrigens für solche Events vorsichtshalber rechtzeitig auf Kontaktlinsen umstellen - den Rückzug angetreten und irgendwann auch ohne Verluste wohlbehalten unsere Autos erreicht.

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Mit Wagemutigen hatten sie heute nicht gerechnet: Überraschte Schafe am Sleave League


Da uns die Aussicht auf eine heiße Schokolade und eine warme Badewanne irgendwie plötzlich sehr verlockend vorkam, steuerten wir - kurz unterbrochen durch einen kleinen Einkauf in Killybegs - heimatliche Gefilde an. Seit unserem Abbruch spielt das Wetter in totaler Beständigkeit seine Unbeständigkeit aus. Sonnige Abschnitte wechseln sich mit Nebelbänken und dramatischen Regenschauern ab. Der anhaltende Wind lässt das Ganze wie im Zeitraffer wirken. 

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Für jeden was dabei - Wetterkapriolen in Nord-West-Irland


Wenn der Sleave League nun meint, er hätte uns besiegt, täuscht er sich. Wir kommen wieder. Vielleicht nicht mehr heute, aber dafür ganz bestimmt.

© Carsten Seiler 2013