Einmal ordentlich durchgepustet

Na, da hat der gestrige Abend ja dann doch noch einen etwas überraschenden Verlauf genommen. Wir waren eigentlich nur noch einmal für eine kurze Runde um den Hafen im Schmuddellook aus dem Boot gestiegen, als wir am Zugang zu unserem Steg auf einen älteren Iren trafen, der eine Anzahl DIN-A4-Blätter auf dem Arm hielt und sichtlich erfreut war, auf uns Touristen zu stoßen. Wie sich schnell herausstellte, handelte es sich bei den Papieren um Einladungen in einen der drei örtlichen Pubs in Clondra namens „The Camlin Bar“, wo an dem Abend die „Traditional Irish Music & Song Night“ starten sollte. Er selbst würde Akkordeon spielen, es kämen aber auch noch weitere Musikanten und man könne eine sehr lustige Session erwarten.

Wir gingen angesichts dieser mit Inbrunst und Stolz vorgetragenen Ankündigung also noch einmal in uns, um anschließend das geplante Abendprogramm über den Haufen zu werfen, uns umzuziehen und gegen halb zehn in den Pub aufzubrechen.

Und was soll man sagen? Es wäre ganz klar ein Fehler gewesen, nicht noch einmal aufzubrechen. Als wir eintrafen, waren zwar gerade einmal drei Personen vor Ort, die waren dafür aber echte Originale - ebenso, wie der Pub selbst. Neben unserem Akkordeon-Spieler saß noch eine Dame etwa gleichen Alters am Tisch, die den Inhalt eines kleinen Supermarktes (u.a. Margarine und Handseife) vor sich stehen hatte und sich gemütlich ihr Abendessen zubereitete. Und dann war noch Seamus, der Pub-Inhaber: Selten haben wir einen chaotischeren, scheinbar völlig überforderten, aber dennoch absolut liebenswerten Kneipier getroffen.

Die drei saßen in einem Raum, der ungefähr die Ausmaße eines mittelgroßen Wohnzimmers aufwies und bei dessen Innengestaltung sich der Dekorateur, der für die Tapeten zuständig war, offensichtlich auch um die Sitzgelegenheiten hatte kümmern dürfen. Die von uns regelmäßig angebrachte Frage nach einem WiFi konterte Seamus mit einem Achselzucken und einem aufrichtigen „Unfortunately not“. Eigentlich hätte uns der Röhrenfernseher in einer Ecke des Raumes auch schon von der Frage abhalten können, aber man will sie halt nicht auch nicht ungestellt lassen. Es verwunderte bei der Einrichtung beinahe schon ein bisschen, dass das Betriebstelefon keine Wählscheibe mehr hatte.

Und dann geschah das Wunder von Clondra. Die Tür zum Pub öffnete sich und öffnete sich und öffnete sich und wollte damit auch vorerst gar nicht mehr aufhören. Solange jedenfalls nicht, bis schließlich nicht weniger als zehn Musiker mit Flöten, Gitarren, Handtrommeln, Akkordeons, Mundharmonikas und natürlich Geigen versammelt waren. Dazu noch ein Dutzend Einheimische mit einem gefühlten Altersdurchschnitt jenseits der 70 und acht deutsche Touristen. Wohlgemerkt: Es war mitten in der Woche, es ging mächtig auf Mitternacht zu und die Stimmung stieg immer weiter an. Es wurde musiziert, gesungen, erzählt, gefrotzelt und getrunken - und das meist sogar gleichzeitig. Seamus schenkt sicherlich das schlechteste Guinness diesseits des Atlantiks aus, kommt mit dem Spülen der Gläser nicht nach, wird beim Abrechnen auch kleinster Bestellungen vor schier unüberwindbare Hindernisse gestellt, aber eines muss man ihm lassen: Er hat da eine verdammt lustige Stamm-Mannschaft am Start. Unvegessen wird auch unsere 86-jährige Banknachbarin bleiben, die sich für ein Foto erst einmal die Brille abnahm - für Eitelkeiten ist man halt nie zu alt.

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Es wurde eine Session versprochen - und die gab es dann auch: Die Camlin-Bar-Combo


Als wir heute früh aufstanden, hatten wir immer noch ein seeliges Grinsen bei dem Gedanken an gestern Abend auf dem Gesicht. Wer mal mittwochs in der Nähe ist, sollte auf jeden Fall vorbeischauen - aber keinesfalls Bier vom Faß nehmen. 

Um halb zwölf lichteten wir die Taue und machten uns auf den Weg zurück Richtung Lough Ree, in dessen süd-östlichem Teil sich ja auch unsere Basis befindet, zu der wir morgen zurückkehren wollen, um unsere Koffer abzuholen und ein paar Anleger weiter in Ruhe zu packen.

Es ging also zurück durch die grüne Hölle des Clondra Canal und seine kleine Schleuse, wo wir auch schon von unserem gestrigen Schleusenwärter erwartet wurden, der sich bis zu unserem Eintreffen die Zeit mit Rasenmähen vetrieben hatte.

Das Wetter war zwar bedeckt, aber trocken. So konnten wir mit offenem Verdeck gemütlich an Lanesborough vorbei bis in den See vordringen. Dort wurde es dann zunehmend windig, aber andererseits riss der Himmel auf und einmal mehr musste mit Sonnencreme dem Sonnenbrand kräftig gegengesteuert werden. 

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Der Lough Ree war heute schon zu Beginn nicht mehr ganz so glatt wie auf der Hintour


Zunächst hatten wir noch das Glück, dass Rückenwind auf dem Weg nach Süd-Westen die Wellen von hinten unter dem Boot durchspülte - bei immer heftiger werdenden Böhen war allerdings klar, dass wir bei einer zwangsläufig anstehenden Wende, um in das nord-westlich gelegene Portrunny zu gelangen, irgendwann auch ordentlich schunkeln würden. 

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Wer Wind sät, wird Sturm ernten - da braute sich schon was zusammen


Um die Kurve sind wir dann aber doch noch einigermaßen ungeschoren gekommen, lediglich die letzte Seemeile vor Portrunny wäre für Menschen mit nicht ganz so stabilem Magen vielleicht zu einer leichten Herausforderung geworden. Unsere Herausforderung hingegen sollte noch kommen - das Anlegemanöver im Portrunny Harbour. Als wir in den Hafen einliefen, merkten wir schnell, dass die Annahme, er sei windgeschützt gelegen, nicht zutreffen würde. Es fand sich schlicht keine Möglichkeit, sich irgendwo leicht an den Steg drücken zu lassen, um in Ruhe zu vertauen. Gleichwohl es nicht regnete, wussten mittelschwere Sturmböen dieses Ansinnen nachhaltig zu verhindern. Wir entschieden uns schließlich für ein waghalsiges Manöver an der Kaimauer - in der Hoffnung, dass wenigstens die ein zügiges Anfahren unterstützen würde. Weit gefehlt. Kaum war Smutje von Bord, drückte der Wind das Boot mit aller Macht vom Anleger weg. Nur unter gemeinsamer Mobilisierung der wirklich allerletzten Kraftreserven gelang es uns schließlich, die Glasson Lass dingfest zu machen. 

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Geschafft: Boot und Crew sind in Sicherheit, während das Wetter im Zeitraffer vorbei zieht 

 

Die eigentliche Katastrophe war aber weniger das nur mit Mühe gerettete Anlegemanöver, sondern die Tatsache, dass der hiesige Pub am Hafen seine Pforten leider zwischenzeitlich für immer geschlossen hat. Für das zweite Deutschland-Spiel müssten wir daher leider kilometerweit laufen, wozu wir heute schlicht keine Lust mehr haben. So verfolgen wir bei sich langsam beruhigendem Wetter den Live-Ticker und schauen einem örtlichen Schwimmtreff zu, der sich mit Neoprenanzügen und Flossen unverdrossen in die noch recht aufgewiegelten Fluten stürzt. Für die Iren gibt es vermutlich erst bei Orkan einen Grund, das gemeinsame Schwimmen abzusagen. Bewundernswert.

Morgen werden wir definitiv zum zweiten Mal das erste (Miet-)Boot sein, das den Hafen verlässt - außer uns hat es, vermutlich wetterbedingt, kein anderes Schiff bis hierher verschlagen.

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Ganz langsam beruhigte es sich draußen - immerhin gab es keinen Tropfen Regen heute


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Und schon sieht es so aus, als wenn nie etwas gewesen wäre - typisch Irland 


© Carsten Seiler 2013